Natalia Stachon – Awaiting Oblivion

01. September - 13. Oktober 2012 

 

Folgt man dem französischen Autor und Philosophen Maurice Blanchot, der 1962 ein vielbeachtetes Buch mit dem Titel "L’attente l’oubli" (engl. "Awaiting oblivion") herausbrachte, so ist jede menschliche Handlung als Reaktion auf jene zwei rätselhaften Gedankenräume zu lesen, für deren sprachliche Erfassung im Wörterbuch die Begriffe Warten und Vergessen eingetragen sind. Alle Kreativität, insbesondere die künstlerische, speist sich aus dem Versuch, den Bedeutungsebenen dieser zwei Wörter trotzig entgegenzuwirken. In diffusem Bewusstsein darüber, dass alle Lebensrealität wesentlich von der scheinbar handlungseinschränkenden und eliminierenden Wirkung der Warte- und Vergessensräume beeinflusst wird, entwirft der Einzelne fortlaufend Gegenmodelle; er baut und erfindet auf eine Weise, die ihn als aktives und erinnerungswürdiges Wesen vorstellen soll und wendet allen verfügbaren Ideereichtum auf, um sich den destruktiven Kräften des Wartens und Vergessens zu entziehen. Für Blanchot liegt der Schlüssel zur Aktivierung des menschlichen Handlungswillens in der immerwährenden Umdeutung von Stillstand und Verlustangst in vitale Ereignisse des Beginns, des Aufbruchs und der produktiven Veränderung.

 

Wenn die Künstlerin Natalia Stachon sich mit der Gedankenwelt Blanchots verbindet, so deshalb, weil sie sich mit ihren Arbeiten an genau diesen Zonen der Umdeutung aufhält. Es sind die riskanten Vorstufen des Neubeginns, die Stachon in ihren raumgreifenden Installationen thematisiert. Jene Momente, in denen alles möglich scheint und die Ideen von Wandel und Erfindung einen Grad an Vollkommenheit besitzen, der so nur im Vorraum möglicher Realisierung existiert. Alles ist bereits vollendet und noch nicht einmal begonnen.

 

Eine mehrdeutige Empfindung dieser Art ist es, die Natalia Stachon in ihrer dritten Einzelausstellung bei Loock initiiert. Die Zusammenschau von Skulpturen und Zeichnungen erzeugt eine Raumwirkung, die gleichermassen definitiv wie veränderbar und instabil anmutet. So befinden sich die beiden von der Decke der Halle herabhängenden Plexiglasskulpturen ("Drift") in perfektem Gleichgewicht. Sie wirken stark und massiv, in ihrer Materialität und statischen Ausrichtung jedoch gleichzeitig zutiefst gefährdet. Es scheint, als wenn eine leichte Berührung oder minimale Korrektur der Hängeposition ausreiche, um die Skulptur unwiederbringlich zu verändern. Dieser doppelte Schwebezustand von "Drift" evoziert beim Betrachter einen Reaktionskonflikt: Bewahren oder Handeln? Beides scheint sinnvoll und riskant zugleich. Auch die Skulptur "Elude", ein Wagen aus Edelstahl, der eine grössere Anzahl in die Höhe ragender Plexiglasrohre stabilisiert, erzeugt eine vergleichbar verunsichernde Wahrnehmung. Bilden die transparenten und eng aneinandergedrängten Objekte eine endgültige Einheit? Oder ist "Elude" die Vorstufe einer zukünftigen Handlung, in dessen Verlauf sich die Erscheinungsform der Skulptur grundlegend verwandeln wird? Es ist eine Atmosphäre von Unsicherheit, Perfektion und Erwartung, die "Elude" gleichermassen zueigen ist, ganz so, als wäre der Raum, in welchem Stachon ihre Arbeit installiert hat, zufälliger Aufenthalts- und endgültiger Bestimmungsort in einem. Ähnliches gilt für die drei grossen Zeichnungen mit dem Titel "Neither". Zu sehen sind Bauten in unvollendetem Zustand, die fast umgebungslos im leeren Raum zu schweben scheinen. Aufgegebene Handlungsvorhaben, die wie Relikte einstmals grosser Versprechen nach Umdeutung und neuer Verankerung suchen. Weil "Neither" sich jedoch nicht ohne einen vervollständigenden Gedanken betrachten lässt, initiiert Stachon die entscheidende Transformation in der Wahrnehmung des Ausstellungsbesuchers, der die zukünftige Bedeutung der Gebäude auf eine nur ihm zugehörige Weise entscheidet.

Eine ganz andere Form von Zeichnung ist es, die das optische Zentrum von Natalia Stachons Ausstellung bei Loock bildet. Sie befindet sich nicht auf Papier, sondern erstreckt sich über die gesamte Bodenfläche des grossen Galerieraumes. "Plot" nennt Stachon die aus losen und teilweise miteinander verschweissten Stahlträgern bestehende Skulptur, die ein Geflecht von Richtungen und Abgrenzungen entfaltet. "Plot" wirkt wie ein Grundriss oder gar das konkrete Fundament einer im Vorstadium der Ausführung stillgelegten Architektur. Gleichzeitig jedoch erscheint Stachons Skulptur wie ein graphisches Gedankenbild, eine unabgeschlossene, sich aus zahllosen, einander überkreuzenden Vorstellungen zusammensetzende Idee für die Umdeutung eines bisher unerschlossenen Areals.

 

Natalia Stachon studierte Freie Kunst bei Pia Stadtbäumer und Visuelle Kommunikation an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg sowie Fotografie an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich. Ihre Arbeiten wurden u.a. ausgestellt in: Museum Haus Konstruktiv/Zürich, Haus am Waldsee/Berlin, Tate Modern/London, X-Initiative/New York, Galeria Leme/São Paulo. Ihre Arbeiten befinden sich in namhaften Sammlungen wie der Daimler Kunstsammlung Berlin/ Stuttgart, Sammlung Goetz/ München, Stiftung für konstruktive, konkrete und konzeptuelle Kunst/ Zürich, Sammlung der zeitgenössischen Kunst der Bundesrepublik Deutschland/ Bonn und der Menil Collection in Houston TX. Stachon lebt und arbeitet in Berlin.